Unerwarteter Besuch
Es war an einem kühlen Septemberabend im Jahr 1863 als eine elegante Kutsche durch die dunklen Straßen Berlins fuhr. Vor einem herrschaftlichen Haus brachte der Kutscher die Pferde zum Stehen und ein gutgekleideter junger Herr stieg aus.
Interessiert musterte er die Eingangstür aus dunklem Eichenholz. In das Holz waren seltsame Figuren eingeschnitzt. Einhörner, Drachen, Schlösser, Könige und Königinnen sowie windschiefe Häuschen und bucklige Frauen mit Hakennasen und Katzen auf der Schulter zierten die Tür.
Professor Jacob Ludwig Carl Grimm stand auf dem silberfarbenen Namensschild, welches daneben an der Hauswand angebracht war.
Unentschlossen verweilte der späte Besucher vor dem Haus bevor er sich ein Herz fasste und den Messingknopf dreimal fest gegen die Tür schlug. Es dauerte eine geraume Weile, und beinahe wäre der junge Mann wieder umgekehrt, da öffnete sich langsam die Tür. Ein zerbrechlich wirkender weißhaariger Greis stand vor ihm. Sein faltiges Gesicht war eingefallen und die Hände zitterten unkontrolliert. Aber seine Augen waren erstaunlich wach, wie die eines 30-jährigen.
„Womit kann ich Ihnen zu so später Stunde dienen?“, fragte er mit angenehm klarer, dunkler Stimme.
„Professor Grimm?“
„Ja, der bin ich.“
„Bitte verzeihen Sie meinen Überfall, aber die Angelegenheit ist für mich von außerordentlicher Wichtigkeit.“
„Nun, wenn das so ist, dann treten Sie doch bitte ein, Herr …?“
„Entschuldigung, Herr Professor, wie unhöflich von mir. Mein Name ist Alexander von Dornrös.“
„Angenehm. Kommen Sie, Herr von Dornrös, kommen Sie.“
Langsam schlurfte der Greis die hohe Eingangshalle entlang, bis in ein seltsam anmutendes Empfangszimmer. Das flackernde Kaminfeuer und einige Kerzen erhellten den Raum und ließen die Bilder an der Wand beinahe lebendig erscheinen. Eines der Gemälde zeigte ein romantisches Schloss, welches von Rosensträuchern überwuchert wurde. Der Professor ließ sich in einem bequemen Ohrensessel nahe am Kamin nieder und beobachtete neugierig, wie sein Besucher beinahe magisch von dem Bild angezogen wurde.
„Dornröschen ist eines meiner Lieblingsmärchen“, sagte er. „Es kursieren so viele verschiedene Versionen dieser Geschichte, dass man beim besten Willen nicht sagen kann, ob etwas davon wahr ist und falls ja, was. Mein Bruder Wilhelm vertrat die Meinung es wäre egal, welche Version wir aufschreiben, es wäre sowieso nichts dran an diesem Märchen. Aber ich bin da anderer Meinung.“
„Sie haben Recht, Professor. Dornröschen hat es tatsächlich gegeben. Allerdings trug sich alles völlig anders zu und nicht so wie Sie und Ihr Bruder es veröffentlicht haben. Deswegen bin ich hier.“
„Ich dachte mir bereits, dass Sie mich deswegen aufsuchen“, sichtlich amüsiert registrierte er den verblüfften Gesichtsausdruck seines Gegenübers. „Nun schauen Sie doch nicht so entsetzt, Eure Hoheit. Man muss kein Zauberer sein um das zu erraten.“
„Woher wissen Sie …?“
„Ihr Name und das Adelsprädikat ließen mich von Anfang an vermuten, dass Sie ein Nachfahre Dornröschens sind. Ich wundere mich nur, dass Sie erst so spät die Wahrheit ans Licht bringen wollen. Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass ich nicht mehr lange leben werde.“
„Meine Mutter erzählte mir unsere Familiengeschichte erst im letzten Jahr kurz vor ihrem Tod. Sie selbst hatte 1838 versucht Sie in Göttingen aufzusuchen, aber Sie und die anderen Göttinger Sieben waren verschwunden.“
Professor Grimm entfuhr ein bitteres Lachen.
„König Ernst August von Hannover sei Dank. Er hat die Verfassung von 1833 gebrochen und als wir Professoren öffentlich dagegen protestierten wurden wir des Landes verwiesen. Wir hatten Glück, dass er uns nicht in den Kerker werfen ließ.“
„Ja, davon habe ich gehört. Als meine Mutter erfuhr wo Sie zu finden sind war sie mit mir schwanger. Und von der schweren Geburt konnte Sie sich nie wieder richtig erholen. Sie war zu kränklich um die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen.“
„Warum hat sie mir oder meinem Bruder nicht geschrieben?“
„Vermutlich befürchtete sie, dass Sie sich vor lauter Briefen kaum retten können, so dass ihre Nachricht untergehen würde.“
„Nun, ich bin sehr gespannt auf Ihre Geschichte, Eure Hoheit. Aber nun nehmen Sie doch bitte erst einmal Platz.“
„Danke, Herr Professor. Den Adelstitel können Sie sich jedoch sparen. Nach dem Tod ihrer Eltern haben Rosalinde, wie Dornröschen wirklich hieß, und ihr Mann das Königreich an ihren
Freund, Georg Ludwig von Hannover übergeben um ein bürgerliches Leben zu führen. Dazu müssen Sie wissen, dass mein
Ururururgroßvater nicht dem Adelsstand angehörte.“
„Hat Dornröschen …, Entschuldigung, Rosalinde denn nicht den Prinzen geheiratet, der sie erlöste?“
„Dieser Prinz hat niemals existiert. Aber am besten erzähle ich Ihnen alles ganz von vorne.“
Während die Nacht über Berlin hereinbrach machten es sich die beiden Männer vor dem Kamin bequem und der alte Märchensammler Jacob Grimm lauschte der Erzählung seines jungen Besuchers.