Prolog
1.
Der Motorway war komplett gesperrt. Polizeifahrzeuge standen mit blinkenden Blaulichtern auf den Fahrspuren und blockierten diese. Der Verkehr staute sich inzwischen über mehrere Kilometer. Auch auf der eigentlich freien Gegenfahrbahn war es durch Gaffer inzwischen zu einem recht langen Stau gekommen. Polizisten waren damit beschäftigt, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Keine leichte Aufgabe bei dem Chaos, das sich den Beamten offenbarte.
Das Auto, welches bei hoher Geschwindigkeit und auf regennasser Fahrbahn beim Überholen unter den Auflieger des Sattelschleppers geraten war, ließ sich kaum noch als solches erkennen. Es war so massiv zerstört, dass sich auch nur noch mit sehr viel Mühe der Fahrzeugtyp ermitteln ließ.
Die beiden Insassen waren sofort tot gewesen. Folglich hatte der Fahrer des Notarztwagens schon lange die Blaulichter an seinem Fahrzeug abgeschaltet. Der Arzt kümmerte sich um den Fahrer des Sattelschleppers, der durch die Ereignisse ziemlich mitgenommen, aber ansonsten unverletzt war.
Inzwischen war ein Leichenwagen zur Unfallstelle vorgedrungen. Die ebenfalls anwesende Feuerwehr hatte es geschafft, das Fahrzeugwrack unter dem Auflieger hervorzuziehen und zu öffnen. Nun blieb nur noch für die beiden Bestatter die Aufgabe, die beiden verheerten toten Körper in größtmöglicher Würde von der Unfallstelle wegzubekommen.
Eine Polizistin hatte inzwischen die Ausweispapiere der Toten an sich genommen. Ihr und einem Kollegen würde noch die sehr unangenehme Aufgabe bevorstehen, etwaige Angehörige der Toten ausfindig zu machen und die Nachricht zu überbringen.
Seufzend begab sich die Polizistin mit den Ausweispapieren zu ihrem Einsatzfahrzeug und begann mit der Detektivarbeit.
Die Namen der Toten hatte sie: Sarah und Robert Pitkin. Nun musste sie den Rest herausfinden. Wo wohnten sie, hatten sie Angehörige, musste für diese unter Umständen Hilfe organisiert werden?
Noch wusste sie es nicht.
Aber sie würde es rasch herausfinden.
Und dann musste sie diese Hiobsbotschaft überbringen.
2.
Leere.
Das war das, was Emily zu allererst empfand. Sie saß in dem Nahverkehrszug und starrte teilnahmslos aus dem Fenster, ließ die schroffe Landschaft an sich vorbeiziehen und ließ sich weiter in diesem dumpfen Gefühl plötzlicher schreiender Stille treiben.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt. Sie war sechzehn und plötzlich war ihr Leben, wie sie es kannte, weg.
Einfach so.
Peng.
Bevor die Polizisten an ihrer Haustür geklingelt hatten, war ihre größte Sorge noch gewesen, dass ihre Eltern vermutlich wieder einmal einen Riesenaufstand wegen dem nächsten blauen Brief aus der Schule proben würden.
Das würden sie aber nie wieder tun.
Weiß Gott, sie hatte mehr als einmal ihre Eltern zum Teufel gewünscht, weil sie sie nie verstanden und stets bevormundet hatten. So hatte sie es zumindest empfunden und hatte sich wiederholt sehr abweisend ihnen gegenüber verhalten.
Ihre Mutter hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie ein sehr schwieriges Kind sei und dass sie hoffe, dass Emily trotz allem noch den richtigen Weg finden würde. Doch im Moment schien das aussichtslos zu sein.
Nein, sie wollte sich nicht bevormunden lassen.
Jedenfalls nicht in ihrem alten Leben.
Doch jetzt würde sie sich fast nichts sehnlicher wünschen, als einen gehörigen Anpfiff ihrer Eltern, wegen ihres angeblich renitenten Verhaltens gegenüber einigen Lehrern.
Doch sie würden es nie wieder tun.
Sie waren tot.
Und Emily würde nie wieder die Chance haben, ihnen zu sagen, dass sie sie eigentlich geliebt hatte.
Niemals mehr.
Bisher hatte sie nicht geweint.
Sie konnte es einfach noch nicht.
Sie war wie betäubt gewesen. Und was danach kam, konnte sie nahezu nicht mehr steuern.
Aus dem gemeinsamen Haus musste sie ausziehen. Es gehörte zwar ihren Eltern, folglich hatte sie es als Einzelkind geerbt, aber solange sie noch nicht volljährig war, hatte die Fürsorge den Daumen drauf. Und die geballte Macht staatlicher Bevormundung hatte sie auch sehr bald zu spüren bekommen.
Und sie stand vor der Wahl:
Entweder sie ging in ein Heim, in dem sie bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag versorgt wurde oder aber sie versuchte, bei ihrem einzigen noch lebenden Verwandten, Onkel Nathaniel unterzukommen.
Und das war für sie eine handfeste Überraschung gewesen. Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass sie keine Verwandten mehr hatte. Ihre Großeltern waren sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits tot, und dass ihr Vater oder ihre Mutter noch Geschwister hatten, war ihr niemals bekannt gewesen.
Und nun wusste sie, dass ihr Vater noch einen Bruder hatte, der irgendwo in den schottischen Bergen lebte. Ziemlich zurückgezogen, wie man munkelte, ein eigenartiger Kauz sollte er sein, der sich schon vor Jahrzehnten von seiner Familie losgesagt hatte. Er sagte aber relativ spontan zu, sich fortan um seine Nichte zu kümmern.
Sie hatte also doch noch einen Verwandten.
Sie war also nicht ganz entwurzelt.
Aber das Gefühl der Leere wollte dadurch noch nicht einmal ansatzweise verschwinden.
Sie konnte noch nicht einmal genau sagen, ob sie neugierig auf ihren Onkel war oder ob sie eher Angst hatte.
Sie hatte sich noch nicht einmal Gedanken darum gemacht, ob sie sich in dem anscheinend abgelegenen Anwesen wohlfühlen würde. Sie, eine Sechzehnjährige, die zuvor keine Gelegenheit ausgelassen hatte, um es mal ordentlich krachen zu lassen.
Sie würde es merken. Und wenn, dann würden es nur noch zwei Jahre sein, dann konnte ihr die Fürsorge mal im Mondschein begegnen und sie konnte wieder in ihr Elternhaus zurück, das nun verlassen und verschlossen rund hundert Kilometer südlich von London stand.
Der Zug kroch bemerkenswert träge über die kurvenreiche Nebenstrecke und hielt scheinbar an jeder Milchkanne. Ihre sonst übliche Ungeduld wollte gar nicht aufkeimen. Scheinbar katatonisch ließ sie die Fahrt einfach geschehen.
Der Zug war recht leer. Das war gut so. Am allerwenigsten wollte sie, dass sich jemand zu ihr setzte und sie womöglich noch vollquatschte. Den hätte sie zwar schnell zum Verstummen gebracht, aber so, wie die Fahrt im Moment lief, war es ihr am liebsten.
Kein Gequatsche, keinen Zoff.
Lediglich der Schaffner hatte bei der Fahrkartenkontrolle etwas gesagt, das ihr zu denken gegeben hatte.
„Mädchen“, hatte er sie wissen lassen, „ich sehe deine Augen und ich hoffe einfach für dich, dass auch für dich wieder der Tag kommt, an dem du wieder lachen kannst.“
Emily hatte ihn angelächelt. Gequält zwar, aber ein Lächeln bekam sie zustande. Das war der erste warmherzige Satz gewesen, den sie zu hören bekommen hatte, seit die Polizei mit der Nachricht vom Tod ihrer Eltern an der Tür stand.
Nach mehr als fünf Stunden hatte die Fahrt ein Ende. Mit zwei großen Koffern – dem, was ihr die Fürsorge zunächst einmal von ihrem alten Leben zugestanden hatte – stand sie dann nach mehrfachem Umsteigen an der Station von Drummuir mitten in Schottland. Zunächst dachte sie, der Zug hätte auf freier Strecke gehalten, aber die Durchsage durch den Schaffner machte ihr klar, dass sie hier aussteigen musste.
Zunächst war sie entsetzt gewesen. Sie stand mitten im Wald und selbst die Zuwegung zu dem Bahnsteig war nicht befestigt. In den letzten Tagen musste es geregnet haben, der Boden war leicht morastig. Die Temperaturen schienen auch kaum über der Zehn-Grad-Marke zu sein. Auch wenn sie für die raue Witterung in den schottischen Highlands fast ein wenig zu leicht gekleidet war, fror sie nicht.
Sie war auch noch nicht so weit, dass sie in Panik verfallen würde, als der Zug mit laut röhrendem Dieselmotor davon rollte und sie ziemlich verlassen in dieser Einöde zurückließ.
Sie nahm ihre Koffer auf und schritt zunächst einmal die unbefestigte Steigung hinauf, um zur Straße zu gelangen.
Die Straße war immerhin schon einmal geteert. Das war aber auch schon alles. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Auch nach Häusern suchte sie vergebens.
Ratlos stand sie an der Straße und blickte sich um. Sie hatte lediglich erfahren, dass sie in Drummuir aussteigen musste. Danach war sie nun wohl auf sich alleine gestellt.
Bislang hatte sie sich damit getröstet, dass sie vielleicht noch ein Taxi am Bahnhof finden würde, aber das hier ließ sich nur mit sehr viel Wohlwollen als Haltestelle bezeichnen und Taxis gab es hier weit und breit nicht.
So langsam fragte sich Emily, ob es hier überhaupt Autos und andere Errungenschaften des einundzwanzigsten Jahrhunderts geben würde.
Schließlich fasste sie einen Entschluss.
Vor ihr schien die Straße so etwas, wie eine abknickende Vorfahrt zu beschreiben. Sie beschloss, dieser zu folgen und zu hoffen, dass sie irgendwann auf bewohntes Gebiet treffen würde.
Innerlich dankte sie allen Göttern, dass sie sich für ihr Gepäck für die beiden Rollkoffer ihrer Eltern entschieden hatte, sodass ihr erspart geblieben war, die schweren Gepäckstücke jetzt für eine unbestimmte Distanz durch diese unwirkliche schottische Landschaft zu schleppen.
Sie machte sich auf den Weg. Langsam schritt sie die Straße entlang und zog die beiden Koffer hinter sich her. Einer erwies sich dabei als recht störrisch und drohte in jedem Schlagloch umzukippen.
Emily lief und lief und konnte auch durch die Bäume keine Häuser erkennen. So langsam kehrte dann doch ihre Ungeduld zurück.
Doch allzu lange sollte diese nicht mehr auf die Probe gestellt werden, denn das, woran Sie schon gar nicht mehr geglaubt hatte, geschah tatsächlich. Aus der Ferne hörte sie das Brummen eines Motors und tatsächlich näherte sich ihr bald ein weißer Kastenwagen, der auch schon bessere Tage gesehen hatte.
Und nicht nur das: Auch ohne ein Handzeichen von ihr bremste der Fahrer herunter und kam auf ihrer Höhe zu stehen.
Das Seitenfenster wurde heruntergekurbelt und ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht aber mit freundlichen Lächeln blickte heraus.
„Du musst die kleine Emily Pitkin sein“, stellte der Fahrer freundlich fest.
Mit dem Wort „klein“ hätte sich der Mann unter anderen Umständen bei ihr ziemlich unbeliebt gemacht, aber im Augenblick war sie mehr als froh, dass sie erkennen durfte, dass sie doch nicht ganz auf sich alleine gestellt zu sein schien.
„Das stimmt“, sagte sie – wenn auch nicht allzu freundlich.
„Potzblitz!“, rief der Mann aus, schaltete den Wagen in den Leerlauf, zog die Handbremse an und stieg aus, um mit ausgestreckter Hand zu ihr zu eilen. „Ich bin Everett O’Malley.“
Emily nickte unverbindlich, nahm aber seine Hand. Sie verzog keine Miene, als der schraubstockartige Griff ihre Hand schier zu brechen schien. O’Malley ließ aber auch wieder sofort los und griff ohne Aufforderung zu den beiden Koffern, um diese zur Heckklappe des Kastenwagens zu tragen.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen“, erklärte er indessen. „Um ein Haar wäre ich gar nicht gekommen, weil ich den Tag verwechselt habe. Das wäre dann für dich eine ziemliche Odyssee geworden. Aber zum Glück ist das ja noch mal gut gegangen.“
„Ich verstehe noch nicht …“, sagte Emily unsicher.
„Ach so, stimmt.“ O’Malley wuchtete die Koffer in den Kastenwagen und verschloss die Heckklappe wieder. „Ich bin der Gärtner deines Onkels. Und da es nicht viel zu Gärtnern gibt, erledige ich auch die eine oder andere Besorgung. Und heute sollte ich dich von Drummuir abholen, damit du nicht noch womöglich die nächsten zwanzig Kilometer laufen musst.“
„Zwanzig Kilometer?“, fragte Emily entgeistert.
„Ja. Das wäre dann doch ziemlich weit gewesen.“ O’Malley grinste verlegen.
„Aber nur etwas“, brummte Emily.
O’Malley war inzwischen zur Beifahrertür geeilt und hielt sie ihr auf.
„Darf ich bitten?“, fragte er.
Emily konnte nicht anders. Ein leichtes Lächeln stahl sich in ihr Gesicht – auch wenn es ihre dunklen tieftraurigen Augen nicht zu erreichen vermochte – und sie stieg ein.
O’Malley schloss die Tür, lief wieder zur Fahrerseite, stieg ein, legte den Gang ein und fuhr los.
Der alte Kastenwagen setzte sich träge in Bewegung, nahm aber schnell Fahrt auf.
Sie fuhren nochmal zur Bahnhaltestelle, weil O’Malley dort einigermaßen gut wenden konnte und dann fuhren sie zurück.
Emily blickte immer entgeisterter aus dem Fenster, als sie erkannte, wie lange sie unter Umständen noch hätte laufen müssen, ehe überhaupt das erste Haus auftauchte.
Und nun wurde ihr zum ersten Mal ziemlich klar, in welchen gottverlassenen Flecken es sie verschlagen hatte.
3.
„Weiß dein Planet eigentlich, dass du hier bist?“, lautete die Begrüßung von Onkel Nathaniel.
„Das sollte jetzt wohl witzig sein“, konterte Emily und gab sich die größte Mühe, die Gelangweilte zu spielen.
„Mitnichten.“ Onkel Nathaniel ließ sich scheinbar nicht aus der Ruhe bringen. „In meiner Welt haben Menschen keine blauen und grünen Haare so wie du. Auch liegen die Haare ordentlich geschnitten an und stehen nicht zu allen Seiten ab. Überdies tragen Frauen hier zwar auch Hosen, aber nicht mit solch einem Konvolut an Löchern. Soll das Mode sein oder soll ich sie stopfen lassen? Und wir tragen hier auch keine T-Shirts mit Totenköpfen drauf. Wir ehren die Toten und lassen sie nicht auf Kleidungsstücke drucken.“
„Fertig?“ Emily merkte, dass sie regelrecht sauer wurde.
Ihr Onkel hatte sie beim Eintreten empfangen und statt eines Grußes kamen diese Worte von ihm. Eigentlich war sie auf so etwas nicht sonderlich erpicht und überlegte bereits jetzt, wie sie in dieser verlassenen Gegend Reißaus nehmen konnte.
Onkel Nathaniel schien Anfang sechzig zu sein, er trug kurzes graues Haar und einen sorgfältig gestutzten grauen Vollbart. Seine Augen schienen schalkhaft zu blitzen und ein stetiges ironisches Lächeln schien seine Mundwinkel zu umspielen.
„Ja, ich bin fertig.“ Onkel Nathaniel ließ sich nicht beeindrucken. „Zumindest mit dem ersten Teil. Das Anwesen ist groß genug, sodass wir uns nicht ständig über die Füße laufen werden. Du kannst mit mir die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, musst es aber nicht. O’Malley wird dir dann noch die Küche und alles andere zeigen, damit du dich rasch zurechtfindest. Wenn du etwas brauchst, dann sag es O’Malley. Er wird es dir dann besorgen. Ich weiß auch, dass ihr jungen Leute gerne etwas hört, das an eingeschaltete Kreissägen erinnert und das ihr Musik nennt. Mach das bitte in einer Lautstärke, die mich nicht tangiert. Ich vermute mal, dass es inzwischen sinnlos geworden ist, dich zu erziehen. Also versuche ich es erst gar nicht erst. Mach also, was du willst, solange du nicht mein Leben durcheinanderbringst. Die Fürsorge hat dich mir regelrecht aufgezwungen. Nun gut, ich stelle mich meiner Verantwortung. Aber erwarte nicht zu viel von mir. Das kann ich dir nämlich nicht geben.“
Die Leere kam zurück.
Mehr noch.
Das Gefühl war so stark, wie nie zuvor.
Sie starrte ihren Onkel an.
Ihre Lippen bebten.
Onkel Nathaniel nickte kurz unverbindlich. Dann drehte er sich um, ging und ließ sie in der riesigen Halle stehen.
Sie zuckte kurz zusammen, als Sekunden später O’Malley ihr seine Hand auf die Schulter legte.
Sie starrte ihn an.
Er lächelte zurück.
„Er kann manchmal ein richtiges Ekelpaket sein“, erklärte er. „Aber er hat auch seine guten Seiten. Glaube mir. Das wirst du früher oder später noch merken. Ich verspreche dir: So einsam, wie du dich jetzt fühlst, wirst du nicht bleiben.“