Erstes Kapitel
Man schrieb das Jahr 1945.
Heller Sonnenschein lag auf den blanken Dächern der kleinen Stadt am Fuße des Erzgebirges. Sommervögel sangen ihre Lieder. Ein leichter Wind strich durch das frische grüne Laub der Bäume. Für den stillen Beschauer ein friedliches Bild – und doch war Krieg, ein grausamer, erbarmungsloser Krieg.
Und da – plötzlich wurde die Stille unterbrochen. Das Knattern der Maschinengewehre erklang von neuem und die Natur schien den Atem anzuhalten.
So ging es nun schon seit drei Tagen. Die Einwohnerschaft traute sich nicht mehr, die Luftschutzkeller zu verlassen; denn jeden Tag wurde der Einzug der feindlichen Mächte erwartet. Die Keller waren notdürftig zum Bewohnen hergerichtet worden. Aber so langsam wurden die Lebensmittel und vor allem das Trinkwasser knapp.
In dem großen hellen Neubau auf der Herrmannstraße schienen alle Wohnungen ausgestorben zu sein. Dafür drang aus der geöffneten Kellertür Stimmengemurmel. Hin und wieder war das Weinen eines Kleinkindes zu hören. Die junge Mutter war aus Breslau geflohen und hier bei Verwandten untergekommen. Außer der Mutterbrust gab es in diesen Dreckstagen weder Milch noch Brei. Also kaute die junge Frau auf einem Brotkanten und schob ab und zu dem Kleinen die weichen Krumen in das Mäulchen und das Schreien verstummte.
Die Kellerdecke wurde von halbstarken Fichtenstämmen abgestützt, nur notdürftig von den Zweigen befreit und an einigen rannen noch Harztropfen herab. Mit geschlossenen Augen und einiger Fantasie erinnerte der Duft an unseren grünen Wald im Erzgebirge. Unter dem Treppenaufgang standen zwei gelbe Kinderstühlchen, daran gelehnt zwei Rucksäcke, prall gefüllt. Die Mutter hatte sie aus einem Mangeltuch selbst genäht, nicht zu groß, damit sie von schmalen Kinderrücken auch geschleppt werden konnten. Auf einem Stühlchen saß ein kleines blasses Mädchen. Schwarzes Haar ließen das Gesichtchen noch bleicher erscheinen. Sie hatte den Kopf gegen die Kellerwand gelegt, schwarze, angstvolle Kinderaugen starrten die Mutter an. Frau Langen legte beruhigend ihre Hand auf die des Kindes. Eine etwa vierzehnjährige saß neben Frau Langen. Sie war die älteste der drei Töchter und schien der Mutter aus dem Gesicht geschnitten. Es bedurfte nur eines Blicks, um den Verwandtschaftsgrad zu erkennen.
„Mutti, wo bloß die die Reni bleibt, dauernd läuft sie hinaus.“ Frau Langen lächelte ihrer Großen zu, „sieh mal vor die Haustür, meist steht sie da und schaut, und dann kommt gleich wieder in den Keller.“ Die Große befolgte den mütterlichen Rat und stieg die Kellertreppe hinauf. Vor der Haustür stand nur der Luftschutzwart. „Herr Georgier, haben Sie nicht unsere Reni gesehen? Wir sorgen uns doch, und sie läuft dauernd aus dem Keller.“
„Nein, wer weiß, wohin der Irrwisch mitgelaufen ist. Vielleicht auf die Neue Straße. Vorbeilaufende erzählten, oben sollen schon amerikanische Panzer entlangfahren.“
„Oh, der Strolch, wo sie genau weiß, welche Angst Mutti um uns hat.“ Das Mädchen hatte die letzten Worte kaum über die Lippen gebracht, als ein Schuss über das Talstädtchen donnerte, dass die Haustür erbebte. Der Mann stieß sie jäh in den Hausflur zurück und strich sich erblasst über das Haar. „Verdammt, soll der Schiet jetzt erst losgehen, wo der Krieg doch eh verspielt ist?“ Für Minuten starrte er vor sich hin. Dann herrschte er das Mädchen an: „Geh jetzt sofort in den Keller“, und dann begütigender, „mach nur nicht gar so ein versteinertes Gesicht, die Welt geht schon nicht unter.“
„Wo ist Reni?“
„Geh nur jetzt hinunter, ich werde nach der Kleinen sehen, geh nur.“
Die große Schwester stieg langsam wieder hinab in den schwach erleuchteten Keller.
Der Mann kratzte sich überlegend hinter dem Ohr, als die Haustür aufgerissen wurde. Eine schlanke Kindergestalt flog herein, die Tür krachte wieder zu und die Kleine blieb wie angewurzelt vor dem Mann stehen. „Du, Onkel Georgia, meine Herrn, hab ich mich erschrocken.“ Noch lag in Schatten auf den erweiterten Pupillen, doch von Sekunde zu Sekunde wurde er schwächer und bald waren es wieder die leuchtenden Braunaugen der kleinen Reni Langen, die sich jetzt erwartungsvoll an das Männergesicht hefteten. „Ich bin mit auf die Neue Straße gelaufen. Ich war wirklich nicht die einzige“ beteuerte sie, als sie sein strafender Blick traf. „Die Leute hatten weiße Tücher dabei und da waren Panzer, so groß“, sie schaut sich suchend um.
„Ich weiß schon, wie ein Panzer aussieht, musst es mir nicht ausführlich beschreiben. Was war los?“ Reni zog die Schultern hoch, „ja, also, riesengroße Dinger waren das, die Panzer und die Frauen schwenkten die weißen Tücher, und ich steh und schau, und auf einmal“, Reni machte eine wirkungsvolle Pause, „bumbumbumberum!“ Der Mann schreckte nervös zusammen. „Du Polterhummel. Was hast du dort zu suchen? Den Schuss haben wir hier auch gehört. Hoffentlich bleibt es bei dem einzigen. „Ach, Onkel Gorgie, es war nur ein Schuss, aber alle sind weggerannt und ich lief wie toll hinterher. Ich war auch wirklich bissel sehr erschrocken und nun bin ich wieder da. Freust du dich, dass ich noch leb`?“ Der Luftschutzwart strich ihr übers Haar, „und wie, du Nauke, aber jetzt gehst du augenblicklich in den Keller. Deine Mutti hat Sorge um dich und die anderen auch. Übrigens, elfjährige Mädchen laufen nicht neugierig auf der Straße umher, um Panzer zu sehen, wenn sogar vernünftige Männer zu Hause bleiben.“ Sie schaute zu ihm auf, „aber es war so spannend. Krieg ist spannend.“
„Du dummes Mädel, überleg dir mal, was du da sagst.“ Sekundenlang stand Reni mäuschenstill, dann kamen langsam die Worte, „wenn kein Krieg wäre, dann hätte Vati nicht nach Russland müssen, es gäb keinen Fliegeralarm und wir hätten Strom und Wasser und zu essen; ach, Onkel Gorgie, Ich will auch keinen Krieg“, die letzten Worte stieß sie heftig hervor und sprang die Kellertreppe hinunter. Im Keller herrschte eine gedrückte Stimmung, noch war ja kaum eine halbe Stunde seit dem Kanonenschuss vergangen. Frau Langen stand über ihre Jüngste gebeugt. „Mutti, müssen wir jetzt sterben?“ Die ohnehin dunklen Augen waren schwarz vor Angst. Die Hand der Mutter lag auf dem unruhig schlagenden Herzen ihres Kindes. Das Gesichtchen war verfallen, die kleine Nase stand spitz in die Luft. Frau Langen strich ihrer Kleinen zärtlich über die schmalen Wangen. Ein Herz zerreißendes Lächeln huschte um den blassen Kindermund, „wenn wir sterben, dann kommen wir doch in den Himmel. Vielleicht ist Vati dann auch dort. Das Sterben ist gar nicht so schlimm, Mutti, ist es schlimm?“ Todesangst starrte aus den schwarzen Augen.
Reni war leise hinzugetreten, während die große Schwester die rechte Hand der Kleinen hielt. „Aber Bummelein, wir sterben überhaupt nicht.“ Das verfallene Gesichtchen drehte sich zu Reni. „Wirklich nicht, Bummi, die ollen Panzer sind schon weg. Und nun ist der Krieg aus.“