Wehmütige und mutige Zeilen einer lyrischen Virtuosin (Facebook)
Das Cover zeigt einen Baum in vier Jahreszeiten und der Titel klingt harmlos, locker, leicht: „Rückseiten der Kalenderblätter“. Doch was den Leser erwartet ist ein Band mit hohem „lyrisch-spezifischem Gewicht“! Astrid Leutholf, Poetin und Prosaautorin, Literaturförderin, Lektorin, Libri- Sachbearbeiterin, Studentin der Kulturwissenschaft und Ästhetik ist gewissermaßen mit der Literatur verheiratet wie es Markus Kohler im Interview am Ende des Buches betont.
Der Klappentext macht das Vorhaben der Autorin klarer: Kalenderblätter fallen von unserem Lebensbaum, tragen Daten und Ereignisse mit sich fort. Sind ihre Rückseiten leer, fallen sie oft für lange Zeit dem Vergessen anheim. … Aber die wenigen, die wir beschrieben haben, lassen noch nach Jahren Minuten und Stunden lebendig werden. …
Das Programm der Autorin ist die Verdichtung, die Wahl bestimmter eindringlicher Momente – eine Rück-Schau auf die Rück-Seite des Erlebten. Jeder Mensch hat ein solches Tagebuch. ….Mitunter ist es notiert in unseren Gedanken. Aber immer blitzen Einträge auf, wenn wir erinnert werden – ein Geruch, eine Melodie oder auch nur eine bestimmte Wortfolge versetzen uns zurück in eine bereits vergessene Realität.
Schreiben bedeutet immer auch gegen das Vergessen zu arbeiten.
Astrid Leutholf holt sie wieder hervor aus der Erinnerung, diese Begegnungen mit Tod, Krieg, Trauer, aber auch mit Mut, Erkenntnissen und Visionen.
Hauptmann, Goya, Günderode, Hölderlin. Korczak, Chagall, Mandelstam u.a. aber auch Schreckenszeiten wie den Faschismus ruft dieser Band schlaglichtartig in Erinnerung. Am meisten berührt hat mich in diesem Zusammenhang das „polnische Kinderlied“ für David Rubinowicz (1928-42, eine Figur wie Anne Frank) Es sind in ihrer Einfachheit geniale Zeilen!
Meine Welt/Eine Welt der bunten Wiese/Sommertag/Oder Schneesturm/ Vor den Fenstern/ Horizont noch/Der Wald hinterm Dorf./ Einmal möchte ich sehen/Die Welt dahinter/Will Berge besteigen/Ozeane befahren/Oder Vogel sein/Arme wie Flügel/Darunter Luft sein wird/Die mich trägt./Grau ist meine Wiese/Schneesturm ängstigt/Und der Schrei vor dem Fenster/Gehört keinem Vogel.
Astrid Leutholfs Anliegen ist es, so im Interview mit Markus Kohler, authentisch, ehrlich, verständlich zu sein.
„Verständlich“ – nun ja, viele ihrer Gedichte sind stark verschlüsselt und ohne Hintergrundinfos nicht für alle verständlich – aber dieses Geheimnisvolle macht Astrid Leutholfs Lyrik natürlich auch attraktiv. Es sind zudem Gedichte, die rein durch ihre Sprachkraft wirken, ABER ich hätte mir bei dem einen oder andern Text ein paar historische Anmerkungen gewünscht.
Formal wurde ein klarer Weg gewählt: Es werden keine Kommas verwendet, nur das Satzende wird angezeigt. Dafür beginnt jede Zeile mit Großschreibung. Jede Zeile wie ein neuer Tag…
Dichte Zeilen sind es auf den „Rückseiten der Kalenderblätter“ – dem zeitlosen Ort, an welchen Erinnerungen gerettet werden. Das Drehmoment der Kalenderblätter entspräche dann der Rückseite eines Spiegels – und tatsächlich werden Spiegel in diesem Band zweimal erwähnt. (Einmal bei Hölderlin und einmal im programmatischen Titel „Ich werde meinen Spiegel töten“ Seite 46/38)
Der Spiegel steht für Reflexion und Zeitlichkeit. Insofern ist das Umdrehen der Kalenderblätter oder das Zerstören des Spiegels ein Sprung ins Licht der Erkenntnis. Das Leben ist mehr als ein Abbild oder eine Reihung von Tagen, das zeigt uns Lyrik generell, deren Funktion es ist, ins Mysterium des Lebens vorzudringen.
„Rückseiten der Kalenderblätter“ ist ein melancholischer Band, aber ohne Rührseligkeit. In einigen Texten ist es Astrid Leutholf aus meiner Sicht gelungen, sich mit den Großen der Literaturgeschichte zu messen:
Für Franz – Es hatte viel Wind/in den letzten Tagen/Er trug welke Blätter/In meinen Traum/Gern hätte ich die Hände/Vor ihm versteckt/In der wärmenden Tiefe/ Deiner Taschen - /Vielleicht liegt alles nur daran/Dass wir keine Übung haben/Im Verlassenwerden
(Seite 14)
Lyrik ist harte Arbeit weil Verarbeitung – Aber es ist schöne Arbeit in Bildern: denn wie die Seele selbst spricht Lyrik in Bildern. Eins dieser Bilder fiel mir besonders auf in seiner doppelten Erscheinung: die Distel als Blume und Symbol im Gedicht über die Günderrode (auf deren Grabtuch gestickt, S.12), und dann wieder bei Astrid Leutholfs eigener Vision (Seite 32)
Vision- Gestern lag ich/ Auf einem Stück Grün/Zwischen Australien/Und Köpenick/Ich küsste eine Distel/Mich überkam die Angst/Es könnte der Tag kommen/Da auch die Blumen schweigen/Aus Furcht/Falsch verstanden zu werden.
Hier ist die Angst vor dem Ende der Kommunikation spürbar, vor dem Schweigen der Natur. Dass ihr die Natur tot und stumm gegenüber steht, ist eigentlich die größtmögliche Angst, die die Menschheit haben kann.
Dichter sind aber von alters her genau diejenigen, mit denen die Natur spricht - nicht nur in der kulturell bedingten Symbolik der Blumensprache sondern vor allem auf schamanische Weise. Denn Dichter haben ein zusätzliches Sensorium für die Stimmen der Natur, und sie konnten diese Stimmen schon immer in ein magisches „Besprechen“ umsetzen.
Es sind nicht die Träume/ Die uns töten/Nur manchmal unser Weg/Sie zu verwirklichen („Requiem für T“ Seite 19)…Lyrik selbst steht nicht im direkten Lebenskampf sondern auf Rückseiten von Kalenderblättern…und sollte helfen, Lebensträume zu verwirklichen. Lyrik hat eine therapeutische Funktion, sie kann den Spiegel der Reflexion zerstören und Gefühle oder besser gesagt Seelenkräfte entfesseln. So steht es in Astrid Leutholfs großartigem Gedicht „Die Hexe“
Unter den Flügeln/ Des violetten Vogels Abend/Habe ich ein Netz aufgespannt/Für die untergehende Sonne./ Ich will sie einfangen/Und in mein Haus tragen./Wenn du kommst/Wird sie dir die Tür öffnen/Du wirst mir nicht glauben/Dass sie jetzt mein ist/Wie du nie geglaubt hast/ich könnte etwas besitzen/Aber sie wird da sein/Und aus Furcht vor ihrem Feuer/Wirst du gehen./Am Morgen/Werde ich mein Haus verlassen/Die Sonne auf einen Karren geladen/Auf den höchsten Berg steigen/Dort werde ich brennen/An einem Kreuz/Aus blauen Blumen. (Seite 35)
Die Lyrikerin als Wortschamanin, das zeigt ein Inventar dieses Textes: Feuer/Sonne (göttlicher Kern), Tür (Initiation) , Haus (schützendes Ich), Morgen (Neubeginn), Berg (Kraftort der höheren Energie), Brennen (Transformation), Kreuz (ganzheitlicher Bezug in alle Richtungen)
Die Erwähnung eines Schubkarrens und der blauen Blumen (als romantisches Symbol der Dichtung) zeigen unvermutet inmitten eines unheimlichen Vorgangs eine gemütlich anmutende Gärtnerdimension. Und DAS ist das Großartige dieses Gedichtes und von Dichtung allgemein: es kann transformiert werden, indem Liebliches mit Schrecklichem verbunden und letzteres dadurch erlöst und in einen neuen Zusammenhang gestellt wird.
Am Ende des Klappentextes heißt es: Und manchmal, ganz selten, zeigen wir sie (die Kalenderblätter) anderen. Ein Zögern sich zu zeigen ist spürbar – Doch gottlob hat die Autorin endlich den Sprung gewagt! Ich wünsche diesem gelungenen Auftakt viel Erfolg und bin auf jeden Fall gespannt, wie es mit Astrid Leutholfs Publikationen weitergehen wird.